Das Denken als Weg
Übungsbuch aus dem Grundkurs der Schule für Neues Denken
– Band 1 –
Mensch und Welt
Der Grund, weshalb Anthroposophie so vielen tragischen Irrtümern ausgesetzt war und ist, liegt darin, daß ihr Inhalt mit dem gewöhnlichen Denken nicht wirklich erfaßt werden kann, dies aber in der Regel nicht bemerkt wird. Um die übersinnlich gewonnenen Forschungsresultate Rudolf Steiners voll zu verstehen und fruchtbar werden zu lassen, muß zu einer höheren Art des Denkens aufgestiegen werden. Das neue, schöpferische oder reine Denken hat nichts mit dem üblichen Verstandesdenken gemein. Es geht über dieses hinaus und besteht darin, die Objekte des jeweiligen Interesses selbst zu befragen und zu warten, bis sich ihr Wesen im Bewußtsein des Fragenden ausspricht. Vermittels der Methode der Begriffsbildung führt dieses Buch den Leser an jenes höhere Denken heran und läßt ihn dieses an den Grundbegriffen der Anthroposophie üben, wodurch gleichzeitig eine tiefgehende Einführung in die Anthroposophie stattfindet.
Nach dieser Methode wurden seit 1996 über sechshundert Teilnehmer in das Neue Denken und die Anthroposophie eingeführt.
Dieses Übungs-Buch ist sowohl für Einzel- als auch für Gruppenarbeit geeignet.
Aus dem Inhalt:
Der Weg zum Verständnis des Denkens
Der Weg zum Verständnis des Denkens ist zugleich ein Weg zur Verwandlung der Seele. Wer ihn betritt, kann schon bald Veränderungen spüren, die ihn im weiteren Verlauf befähigen, das Leben bereichert neu zu ergreifen. Und es ist keineswegs übertrieben zu behaupten: Versteht man erst einmal das Denken, so ist man ein anderer Mensch geworden. Dabei kommt es nicht nur auf das „Was“ des Verstehens an, sondern vor allem auch auf das „Wie“. Die Methode des eigenen Denkens verändert sich, sobald man das Denken selbst in der richtigen Weise anschaut und zu verstehen beginnt. Das veränderte Denken aber läßt den Menschen erfolgreich immer tiefer in den Sinn allen Seins eindringen. Er beginnt, inmitten der technischen Kultur ein Leben zu führen, welches auf dem Verstehen der Welt, dem Verstehen des Menschen und der Kenntnis des Daseins-Sinns beruht. Dies zu erreichen ist ein hohes Ziel und es sollte das folgende jedem von uns klar sein: Solange es der heute verbreiteten Lebensauffassung nicht gelingt, uns den Sinn unserer Existenz zu vermitteln, solange müssen ihre sämtlichen Inhalte bezweifelt werden. Wer Teile der Welt erklären will, ohne das Ganze zu verstehen, der kann eigentlich nicht beanspruchen, im Besitz der Wahrheit zu sein. Denn der Sinn einer jeden Einzelheit besteht in ihrer Beziehung zur Gesamtheit. Trotzdem ist genau das die übliche wissenschaftliche Praxis: Man erklärt Einzelheiten, spricht aber dem Dasein jeden tieferen Sinn ab. Solange wir uns mit dem unvollständigen materialistischen Weltbild zufrieden geben, solange werden wir mit dem Leben, mit der Welt und mit uns selbst nicht wirklich lebensgemäß umgehen können. Wir werden aus allerlei unvermeidlichen Irrtümern heraus massiven Schaden für uns und die Welt erzeugen, weil wir es nicht besser wissen, weil unsere veraltete Denkart uns nicht zum vollen Verständnis führen konnte.
Und genau das verwirklicht sich gegenwärtig. Machen wir uns nichts vor, so hoch auch einzelne wissenschaftliche Erkenntnisse gelobt werden mögen, sie zerrütten in ihrer Unverbundenheit mit dem Gesamten den Menschen eher, als daß sie ihn veredeln. Heute ist die Umwelt – das heißt, die Minerale, die Pflanzen und die Tiere – auf das Massivste geschädigt und ebenso groß ist der Schaden an den Leibern und vor allem den Seelen der Menschen. Die Ursache dessen ist zunächst einmal unverstandenes Dasein, ist die Amoralität der Wissenschaft und des aus ihr hervorgehenden Weltbildes des einzelnen Menschen. Und besonders tragisch ist daran, daß es kein solches unverstandenes Dasein geben müßte, daß alles, was man zum Verstehen der Welt und seiner selbst bräuchte, bereits erarbeitet und veröffentlicht wurde. Allerdings erfordert dies Erarbeitete die ganze Aktivität dessen, der es sich aneignen will.
Rudolf Steiner begann schon zum Ende des 19. Jahrhunderts aus seinen übersinnlichen Erkenntnissen heraus, den Grundstein zu legen für die Erneuerung der Kultur Europas. Er war der große Eingeweihte des zwanzigsten Jahrhunderts und hatte wie jeder Eingeweihte vor ihm eine kulturstiftende Lebensaufgabe. Alle Kultur der Welt ist durch Eingeweihte empfangen und in die Menschheit gebracht worden, so z. B. auch die Zehn Gebote durch Moses. Der Grundstein, den Rudolf Steiner für die neue Kultur Mitteleuropas zu legen hatte, besteht zunächst darin, die Menschen darauf hinzuweisen, daß die Welt für den Menschen nicht einfach ein Tummelplatz ist, wo jeder sich nach Herzenslust ausleben soll, sondern daß die ganze Welt auf die Höherentwicklung des Menschen hin angelegt ist.
Diese Entwicklung erfordert in unserer Zeit, daß wir beginnen, uns selbst als denkende Menschen in den Blick zu nehmen. Wir denken als denkende Menschen nicht wie bisher nur über die Welt, sondern jetzt über den denkenden Menschen, über uns selbst im Moment des Denkens. Das heißt auch, wir stellen uns die Frage, wie wir wohl zum Wissen, zum Kennen, zum Erkennen von irgend etwas gelangen. Wir fragen uns, was Erkennen eigentlich ist und wie wir wahrnehmen. Dabei entdecken wir, wer und was wir sind. Gleichzeitig beginnen wir, auch die Welt zu begreifen. Und vor allem erkennen wir, daß das Denken nicht bloß Instrument zum Speichern und Sortieren von Informationen ist, sondern daß es auch Wissen, Kenntnis, ja, Erkenntnis neu hervorbringen kann. Das Denken kann schöpferisch sein, und gerade diese produktive Seite des Denkens, die bisher mehr den Künstlern und Erfindern vorbehalten war, ist nach Angaben Rudolf Steiners der einzige Weg, die Zukunftsaufgaben bewältigen zu können. Das bloße Verstandesdenken, mit dem man gewöhnlich Schule, Ausbildung oder Studium absolviert, mit dem man in den meisten Fällen seinen Beruf ausüben muß, dieses gewöhnliche, in sich passive Lern-Denken ist nach Steiner dekadent. Es hat seine Blütezeit bereits hinter sich und ist daher von Niedergangs-Kräften durchsetzt. Es fehlen ihn die produktive, schöpferische und belebende Seite und jegliche Moralität. Bereits die großen Künstler, Philosophen und auch die Erfinder der europäischen Klassik haben nicht mit der bloßen Gelehrsamkeit des Verstandes ihre allseits bewunderten Werke geschaffen. Allen Klassikern gemein war dieses andere, besondere, neue Denken, welches meines Wissens nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung war, welches aber auf wundersame Weise in der Lage ist, Dinge neu finden und erfinden zu können. Dieses edlere Denken, welches Rudolf Steiner auch als das Reine Denken bezeichnet, wurde von ihm erstmalig erforscht und beschrieben. Es ist höher als der reine Verstand und beherrscht außer Verstandesfähigkeiten wie Unterscheidung, Wiedererkennen und Kombination auch Ästhetik, Ethik und Spiritualität, die sich weit über die reine Logik erheben. Leider ist dieses schöpferische Denken der Klassiker nicht Allgemeingut geworden. Und wenn man sich heute fragt, wieso der offenkundige technische Fortschritt nicht von ebensolchen Fortschritten im Sozialen und Ethischen begleitet ist, dann wird man finden, daß dies darauf zurückzuführen ist, daß unsere Kultur allein ein auf Niedergangs-Kräften basierendes Verstandesdenken pflegt, welches nur das tote Materielle und Mechanisch-Maschinelle erfassen kann, dagegen aber beim Verstehen des Lebens und der selbstlosen Liebe versagen muß. Unsere Technik basiert auf Zerstörungskräften. Die Wissenschaft, aus welcher sie hervorgeht, kann Leben, Moralität, Spiritualität und Liebe nicht erklären, weil sie Produkt eines dekadenten Denkens ist. Im Grunde steckt heute die Welt tief in einer Krise des Bewußtseins – ausgelöst durch das Festhalten am bloßen Verstand. Kalte Logik, reine Nützlichkeit kennen weder Gnade, noch Schönheit oder Liebe. Zum Erfassen des Moralischen und Sozialen ist eben ein höheres Denken erforderlich als zur Handhabung der toten Maschinenwelt.
Dieses Buch wurde geschrieben, um auf diese neue schöpferische Denkart nicht nur hinzuweisen, sondern vor allem auch den Leser praktisch in sie einzuarbeiten. Denn darauf wies Rudolf Steiner schon vor über hundert Jahren hin: Die Höherentwicklung geschieht über die Verwandlung des Denkens und führt den Menschen zur Spiritualität, zum Erfassen der geistigen Welt. Die technische Kultur allein würde am Ende die Menschheit zerreißen. Sie müsse – so Steiner – als Gegengewicht eine lebendige spirituelle Welterkenntnis entwickeln, ohne welche die Todeskräfte des technischen Denkens übergreifen würden auf das Soziale, um dieses zu zerstören. Er hatte recht! Der erste und zweite Weltkrieg und alles, was ihnen nachgefolgt ist, haben gezeigt, wohin dieses Denken führt. Heute ist das Soziale stark zerrüttet. Die Menschheit erlebt sich im Würgegriff der Medien und des Großkapitals, beide sind auf dem Wege, alle Freiheitsentwicklung und Individualität zu unterbinden. Eine neue Welt-Diktatur der Finanz-Wirtschafts-Mächte droht die Menschheit erneut zu versklaven. Auch wenn es durchaus Menschen gibt, die dies schon vor langer Zeit bemerkt haben, so meint doch die Mehrheit der Betroffenen, daß dies wohl so sein müsse, daß man es in jedem Falle nicht ändern könne. Gewiß kann man es nicht ändern, solange man beim gewöhnlichen Denken bleibt. Würde man aber schöpferisch-moralisch zu denken beginnen, z. B. über die Gesetze betreffend Eigentum und Besitz, über die Funktion des Geldes oder die Wirkung der Medien, so würde man ganz neue Lösungen finden. Und ähnlich ist es mit allen Fragen und Problemen des Lebens, die sich der Gesamtheit oder auch dem Einzelnen stellen. Jeder kann einen Großteil seiner Probleme lösen, seiner Fragen beantworten, wenn er sich in dem im folgenden beschriebenen Denken übt und vor allem, wenn er dann auch noch dieses höhere Denken auf die spirituellen Mitteilungen Rudolf Steiners anzuwenden versucht. Denn die Anthroposophie ist für solche Menschen geschaffen, damit sie verstehen können, was ist, und den adäquaten Umgang mit allem Sein finden. Würde dies bei einer gewissen Anzahl von Menschen gelingen, so würde die Welt nicht länger so bleiben, wie sie ist, sondern würde sich tatsächlich in einen Ort des Sinns und des Verständnisses verwandeln.
Hans Bonneval
Rieste, Dezember 2009