Wer war Rudolf Steiner?
Es gibt wohl kaum einen Menschen, der so wenig verstanden bzw. so sehr mißverstanden worden ist, wie Rudolf Steiner. Deshalb ist er, obwohl seine Mission durchaus einer breitere Öffentlichkeit zugedacht war, relativ unbekannt geblieben. Von seinen Anhängern stark verehrt und seinen Gegnern heftig bekämpft, war und ist er, was der heutigen Bildung merkwürdig vorkommt: der große Eingeweihte des 20. Jahrhunderts. Gerade in Deutschland, will man von Eingeweihten und Esoterik nichts wissen. In England dagegen weiß jedes Kind von solchen Menschen, die durch ihre besonders weit vorgeschrittene Entwicklung spirituelle Fähigkeiten ausgebildet haben und dadurch zur Wahrnehmung des Geistes gelangen. Der Geist bzw. die geistige Welt ist das der physischen Welt zugrunde liegende Ideenhafte, Ursächliche, der tätige Plan, die schaffende Absicht. Jeder Welterscheinung liegt ein Geist bzw. ein Geistorganismus zugrunde. Ein solcher Mensch, der das Geistige der Welt übersinnlich wahrnehmen kann, hat besondere Aufgaben, denn ihm sind die Absichten und Ziele der Weltentwicklung bekannt – deshalb wird er „eingeweiht“ bezeichnet. Und so war es im Falle Rudolf Steiners. Er hatte die Aufgabe, der technisch gewordenen Kultur Europas die Spiritualität wiederzugeben, die im ersten Jahrtausend noch allgemein verbreitet war, dann aber durch kirchlichen Mißbrauch und anderes in die Dekadenz geriet. Steiner erkannte: Ohne ein spirituelles Gegengewicht würde die technisch-kommerzielle Kultur zu einer Art Kriegsschauplatz werden und sich gegen die Menschen wenden. Und so geschah es: Steiners Mission erreichte nicht den Bekanntheitsgrad, den sie hätte erreichen müssen, um die Kultur wirkungsvoll zu verändern.
Ein jeder Eingeweihter mit öffentlichem Auftrag hat einen bestimmten Kulturbeitrag zu leisten und es ist eine durch die Wissenschaft des Geistes festgestellte Tatsache, daß alle Kultur der gesamten Menschheitsentwicklung durch Eingeweihte in die verschiedenen Völker und Stämme hineingetragen wurde. Nicht durch Ausprobieren und Absprachen ist die Kultur entstanden, sondern durch die Missionen der verschiedenen Eingeweihten.
Zu den bekanntesten Kulturstiftern zählen beispielsweise Abraham und Moses. Letzterer empfing durch göttliche Eingaben etwa 600 Verhaltensregeln, nach denen sein Volk leben sollte. Zu diesen sechshundert Regel gehören auch die in der Bibel zitierten „Zehn Gebote“. Damit war der Grund für die Jurisprudenz der gesamten Welt gelegt. Ein anderer Eingeweihter war Sokrates, der mit seinen Dialogen eine Art Lehre der Logik begründete, die dann von Platon und dessen Schüler Aristoteles zur weiteren Ausgestaltung kam. In ähnlicher Weise wirken alle Eingeweihten.
Rudolf Steiners Wirken begann mit der Veröffentlichung dreier philosophischer Werke zur Erkenntnistheorie. Die Resultate seiner übersinnlichen Forschungen begann er nach dem Ende des Kali Yuga von Jahre 1900 an der Öffentlichkeit mitzuteilen. Das neue lichte Zeitalter bedurfte einer Erneuerung der gesamten vielfach dekadent gewordenen Kultur. Doch die Menschen zeigten wenig Neigung, sich auf Neues einzulassen. Lediglich im technisch-kommerziellen Bereich und in der Kunst gab es schon seit Längerem willkommene Neuerungen. Die übrigen Bereiche verharrten weitgehend in ihrer überalterten Form. Bedurft aber hätte es gerade auch der Erneuerung des gesamten Geisteslebens, wie sie bereits durch den deutschen Idealismus vorbereitet worden war. Goethe, Schiller, Hegel, Fichte, Schelling und andere waren bereits auf dem Wege, den Materialismus einzudämmen und das Geistige der Welt in den Mittelpunkt des kulturellen Interesses zu stellen. Doch der Siegeszug des Materialismus war nicht aufzuhalten. Mit Goethes Tod versiegte die Begeisterung für den Idealismus.
So fand sich Rudolf Steiner einer relativ schwierigen kulturellen Situation gegenüber, in welcher Mitteilungen über die geistige Welt nicht gerade viel Begeisterung auszulösen vermochten. Und dennoch waren diese Mitteilungen dringend erforderlich, um der Menschheit die zeitgemäßen Entwicklungsimpulse zuzuführen. Da sich aber die Menschheit in der Entwicklung zu einem freien Wesen befand und befindet, mußte und muß es dem Einzelnen überlassen werden, ob er diese Impulse aufnehmen will oder nicht. Während frühere Phasen der Entwicklung ihre Neuerungen gewaltsam durchsetzen konnten, ist jetzt ein solches Vorgehen nicht mehr möglich. Die Götter haben sich von den Menschen zurückgezogen und wirken nur noch durch die Eingeweihten, welche sich an das Interesse des Einzelnen wenden mit ihren Impulsen und Mitteilungen.
Es muß daher auch als eine Art Niederlage der Bestrebungen Rudolf Steiners angesehen werden, daß 1914 der erste Weltkrieg ausbrach. Denn dieser Kriegsausbruch bedeutete nichts anderes, als daß nicht genügend Menschen die Botschaft des Geistes aufgenommen hatten, wie sie Rudolf Steiner in seinen Werken und vor allem in zahlreichen Vorträgen mitzuteilen versuchte. Es kann vermutet werden, daß dieses Scheitern auch darin begründet war, daß die Menschen in ihrem Denken bereits dermaßen materialistisch geworden waren, daß sie zu Steiner Schriften und Vorträgen nur sehr schwer den Zugang finden konnten. Das ist auch heute noch ein Problem. Insofern sollte man mit einer Schulung des Denkens beginnen, wenn man tiefer in die Wissenschaft des Geistes eindringen möchte – was aber eigentlich jedem zu empfehlen wäre.
Rudolf Steiner wurde 1861 in Kraljevec – damals Österreich, heute Ungarn – geboren als Sohn österreichischer Eltern. Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie in Wien und promovierte zum Doktor der Philosophie. Er arbeitete mit an der großen Goethe-Ausgabe in Weimar bis 1897, war Hauslehrer und wurde Generalsekretär der Deutschen Sektion der internationalen Theosophischen Gesellschaft. 1913 wurde er mitsamt der Deutschen Sektion aus der Theosophischen Gesellschaft aufgrund inhaltlicher Differenzen ausgeschlossen und gründete die Anthroposophische Gesellschaft.
Die bereits erwähnte Notwendigkeit einer Erneuerung der Kultur Mitteleuropas unter Berücksichtigung der geistigen Tatsachen führte Steiner dazu, praktisch alle Lebensbereiche aus ihrer geistigen Grundlage heraus zu erforschen und zur Darstellung zu bringen. Daraus entstand die Anthroposophie als eine wirklich umfassende spirituelle Welterklärung, die nicht etwa philosophisch erdacht wurde durch Phantasie, Spekulation und logische Schlüsse, sondern die ganz neu aus dem Geist heraus erforscht wurde. Auch wenn sich zahllose Anklänge an alte Weisheitslehren und Religionen in seinen Angaben finden, so sind doch seine Darstellungen nicht übernommen, sondern ganz neu erforscht, das heißt geistig neu angeschaut. Bei solcher Forschung wird sich selbstverständlich das, was andere Eingeweihte der Menschheit an Kulturimpulsen und Religionsgrundlagen übereignet haben, als gültig und zutreffend erweisen. Die Darstellungen Steiner sind jedoch der heutigen Zeit angepaßt, was man von den alten Weisheitslehren und Religionen nicht behaupten kann.
Die übersinnlichen Fähigkeiten Rudolf Steiner sind nicht mit denen anderer – bisher bekannter – Persönlichkeiten zu vergleichen. Mit Rudolf Steiner beginnt tatsächlich etwas ganz und gar Neues, was zu einer mitteleuropäischen Kultur hätte werden sollen – aber bisher nicht wurde. Zu mächtig – so scheint es – waren seine zahlreichen Gegner, die ihn aus machtpolitischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Gründen anfeindeten und letztlich wohl auch seinen vorzeitigen Tod herbeiführten. Und zu schwach waren seine Freunde, Verehrer und Schüler. Als ein „weißer Okkultist“, ein im konstruktiven und moralischen Sinne Forscher, war er vielen Kreisen eine sehr unangenehme Bedrohung, denn er konnte ihre Absichten und Vorgehensweisen geistig ganz offen anschauen und der Menschheit mitteilen. Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß ein solcher regulärer Eingeweihter nicht rücksichtslos alles ausforschen und veröffentlichen darf, ohne seine übersinnlichen Fähigkeiten dabei zu gefährden. Die geistige Welt duldet keinerlei Egoismus und Unmoralisches. Nur Dinge, die im Interesse der Menschheitsentwicklung stehen, dürfen erforscht und mitgeteilt werden.
Man muß sich klarmachen, daß der geistige „Blick“, wie er Rudolf Steiner möglich war, den Geist, d. h. den Sinn, die Absicht, die Ursache einer jeden Welterscheinung ganz unverhüllt anschauen kann. Bei einer solchen Einsicht bleiben einfach keine Fragen, alles über ein Objekt enthüllt sich in dessen Geist. Hinter jeder Welterscheinung steht ein lebendiger Geistorganismus, der vor allem aus dem Sinn seiner Erscheinung besteht. Deshalb ist einem solchen „Seher“ die Wahrheit über die Welt ganz unverhüllt zugänglich – im Gegensatz zu uns „Nicht-Sehern“, denen sich jedes Objekt zunächst fraglich präsentiert und erst durch unser Denken eine mehr oder minder notdürftige Erklärung findet.
Bedenkt man all dies, so wird deutlich, daß Rudolf Steiner und sein Werk von überragender Wichtigkeit für die gesamte Menschheitsentwicklung ist und daß es durchaus schlimme Folgen haben wird, falls sich nicht sehr bald eine weitaus größere Anzahl von Menschen seinem Werk zuwendet. Er war der Stifter einer zunächst von Mitteleuropa ausgehenden vollkommen neuen Kultur, die aber trotz aller Anstrengungen von Seiten der Anthroposophen von Steiners Gegnern verhindert wurde und wird. Und wenn wir das gegenwärtige Welt-Szenario anschauen, wird auch deutlich warum. Weil es die Nachfolger seine Gegner sind, die im Begriff stehen, die Weltmacht vermittels der wirtschaftlich-kommerziellen Mittel zu ergreifen. Und sollte demnächst die Welt wiederum in Krieg und Revolution gestürzt werden: In Steiners Wissenschaft des Geistes liegt das Gegenmittel, liegt der Weg für eine friedliche Koexistenz der Menschen.
Was Rudolf Steiner ganz besonders am Herzen liegen mußte, war die Pädagogik, die Erziehung der Menschen, die nach seinen Forschungen vollkommen frei gestaltet sein muß zwischen Eltern und Lehrern gegenüber den Kindern. Weder Staat noch Wirtschaft dürfen sich an den Inhalten der Erziehung beteiligen, wenn sie gelingen soll. Auf Steiners Wirken gehen die sogenannten Waldorfschulen zurück, die heute einen schweren Stand haben, weil von allen Seiten versucht wird, eine solche geistig freie Erziehung zu unterbinden. Man will Kontrolle und Macht haben über das, was künftige Erwachsene denken und tun. Auf diese Weise wird verhindert, daß das bereitstehende Geistige in die Erziehung einfließen kann – wodurch letztlich ganze Lebensläufe von Kindern umgebogen und behindert werden.
Ebenso engagiert kämpfte Rudolf Steiner für die Erforschung der Gesetze des „sozialen Organismus“, wie er es nannte, die Gesetze einer jeden menschlichen Gemeinschaft. Auch diese sind vollkommen mißverständnisfrei in der geistigen Welt anzutreffen. Seine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ gehört zu den wenig verstandenen Werken Rudolf Steiners. Sie entstand vor allen auch in der Hoffnung, nach dem Ende des ersten Weltkrieges bei einen Neuanfang die Dreigliederung einführen zu können – was aber nicht gelang.
Ebenso tatkräftig setzte Steiner sich für die Schaffung neuer Kunstformen ein. Besonders hervorzuheben sind dabei die Eurythmie, eine spirituelle Bewegungskunst, und die Architektur, die Steiner im ersten „Goetheanum“ zu einem gewissen Teil verwirklichen konnten. Leider wurde dieser Mysterienbau durch Brandstiftung vernichtet. Das heutige neue Goetheanum wurde nicht mehr von Rudolf Steiner gebaut.
Zu erwähnen sind auch die anthroposophisch erweiterte Medizin und der biodynamische Landbau, der unter dem Namen „Demeter“ vermarktet wird. Beide sind aus Rudolf Steiners übersinnlicher Forschung hervorgegangen.
Das größte Mißverständnis ergibt sich, wenn man noch ohne weitere Kenntnisse auf Steiners christologische Werke und Vortragsschriften stößt. Hier entsteht der Eindruck, Steiner sei ein Kirchen-Christ gewesen, wie viele andere auch. Das ist nicht der Fall. Er gehörte keiner Konfession an, hat aber alles, was dort als Glaubensinhalte existiert, übersinnlich erforscht und mitgeteilt. Diese Mitteilungen machen deutlich, daß die gesamte Menschheit sich in einem Irrglauben befindet bezüglich der Vorgänge um die Person des Jesus-Christus. Dies führte, wie in anderen Fällen auch, dazu, das Steiner auf das Heftigste angefeindet und bekämpft wurde und wird. Es ist ja gewiß begreiflich, daß Amtsinhaber und Würdenträger sich angegriffen fühlen, wen jemand die geistigen Grundlagen ihrer Profession prüft und seine Erkenntnisse veröffentlicht. Dennoch wäre zu erwarten, daß gerade religiöse Menschen in Lage sind, sich über ihren Egoismus zugunsten der Wahrheit hinwegzusetzen. Auch und gerade bezüglich des sogenannten Christentums geht von Rudolf Steiner etwas ganz Neues aus, das mit allem bisher dagewesenen nicht verglichen werden kann. Was heutige Religionen lehren, ist alt und nur noch in sehr wenigen Fällen zutreffend und wahr für unsere Zeit. Die eigentliche Bedeutung, die Mission, die mit Kreuz-Tod und Auferstehung zusammenhängt, bildet den Inhalt des Werkes Rudolf Steiners, die Anthroposophie. Denn seine Mission ist keine andere, als die Vorgänge, die mit dem Geschehen von Palästina zusammenhängen, in ihrer wahren Gestalt in zeitgemäßer Sprache der Menschheit mitzuteilen. Das ist die bereits mehrfach erwähnte Spiritualisierung der heutigen Kultur. Denn die geistige Welt, die es zu entdecken und berücksichtigen gilt, besteht in zahllosen Wesen aller denkbaren Würdestufen und Aufgaben, die allesamt darauf warten, daß die Erdenmenschen sich nun endlich mit ihnen auf zeitgemäße Weise in Verbindung setzen, damit die Menschheitsentwicklung im konstruktiven Sinne weiterschreiten kann. Gelingt dies nicht, so wird die Erde dem Niedergang und der Zerstörung anheim fallen.
Versteht man durch das Studium der entsprechenden Schriften, was Steiner als den wahren Christus beschreibt, dann erkennt man: Um ihn geht es seit fast zweitausend Jahren in der gesamten Entwicklung. Er steht hinter dem Plan, den Menschen zu einem freien, aus Erkenntnis und in Liebe handelnden Wesen zu machen. Und weil er frei werden soll, wurde der Mensch von allem Geist getrennt, wurde ihm die geistige Welt verdunkelt, auf daß er selbst den Weg zum Göttlich-Geistigen finde. Doch die Zeit der Geist-Verdunkelung ist vorüber. Mit der Auferstehung von Golgatha ist verbunden ein Neuanfang für den frei werdenden Menschen. Seit im Jahr 1900 das lichte Zeitalter begonnen hat, soll nun der Mensch freiwillig – aus Einsicht – die bewußte Verbindung zum Geist wieder herstellen. Und genau in diesem Jahr begann Rudolf Steiner seine spirituellen Erkenntnisse zu veröffentlichen.
In dem umfassenden Werk der Anthroposophie Rudolf Steiners liegt die Idee für eine völlig neue Lebensform, die nur mit einer höheren Form des Denkens erfaßt und umgesetzt werden kann. Dabei handelt es sich nicht um die Ideen eines philosophierenden Menschen sondern um den Plan, den die göttlich-geistige Welt der Menschheit gestiftet hat, auf daß sie ihn freiwillig aus Interesse ergreife und umsetze.
Materiell ist nicht mehr viel zu gewinnen. Die ganze Zukunft gehört dem Geist.