Umstülpung als Schöpfungs- und Bewußtseinsprinzip
Eigene Erwägungen anhand der Angaben Rudolf Steiners
Rudolf Steiner beschreibt im zweiten Vortrag des Bandes 79 der Gesamtausgabe drei Arten des Denkens wie folgt:
79/2/10
„… das gewöhnliche Denken ist eigentlich ein aus räumlichen Wahrnehmungen bestehendes Denken …, das auseinanderliegende Gebilde zusammenfaßt. Dieses Denken brauchen wir für das gesunde gewöhnlicheLeben, brauchen wir auch für die gesunde gewöhnliche Wissenschaft.“
79/2/11
„Dasjenige Denken aber, das zum Behufe der Erkenntnis höherer Welten hinzukommen muß, … ist ein Denken, welches ich nennen möchte das morphologische Denken, das Denken in Gestalten. Dieses Denken bleibt nicht im Raume stehen, dieses Denken ist durchaus ein solches, welches im Medium der Zeit so lebt, wie das andere Denken im Medium des Raumes. Dieses Denken gliedert nicht einen Begriff an den anderen, dieses Denken stellt vor die Seele etwas wie einen Begriffsorganismus. … es ist so innerlich beweglich, daß es eine Gestalt aus der anderen hervorruft, daß dieses Denken selber sich fortwährend organisch gliedert, fortwährend wächst.“
79/2/26
„… diese dritte Art des Denkens …, das in der Lage ist, die Gestaltung des Inneren nach außen zu kehren und dabei die Form zu verändern. Das ist nicht anders möglich als dadurch, daß man nun mit dem Denken nicht mehr in der Zeit bleibt, sondern bei diesem Umstülpen geht dasjenige, worüber man denkt, im Denken aus Raum und Zeit heraus, kommt in eine Wirklichkeit, die jenseits von Raum und Zeit liegt.“
Diese Ausführungen Steiners zur dritten Form des Denkens waren mir Anlaß, dem Thema der Umstülpung nachzugehen, auf welches ich durch Peter Schottler im Jahre 2003 anläßlich unserer Begegnung in Wuppertal hingewiesen worden war. Als Mitglied des Kulturata e.V. beschäftigt er sich vorrangig mit dem Phänomen der Umstülpung und vertreibt verschiedenste Modelle von Umstülp-Körpern, wie z. B. den Würfel und die Lamellenkugel, welche auf den Fotos im Anhang zu sehen sind. Peter Schottler war es, der mir die Erstellung eines Buches zum Thema der Umstülpung vorschlug. Kaum hatte ich die Witterung aufgenommen, trat mir unser Thema in den verschiedensten Formen aus Rudolf Steiners Werk entgegen. Rudolf Saacke half mit seinem Suchwort-System, die Stellen in der Gesamtausgabe aufzufinden, wo Steiner das Wort „Umstülpung“ verwendet hat, und Werner Schäfer wies auf eine ganze Reihe von geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen hin, welche auf dem Prinzip der Umstülpung basieren. So war schon nach weniger als sechs Monaten der Suche derart viel Material gefunden, daß eine Auswahl getroffen werden mußte, denn die Veröffentlichung dieser Betrachtungen sollte nicht noch um Jahre hinausgeschoben werden.
Der Titel des Buches ergab sich, als ich den menschlichen Mikrokosmos als umgestülpten Makrokosmos zu begreifen begann, wie die folgenden Zitate zeigen.
214/9/51
„… die ganz andersartige[n] Erfahrung[en], die wir haben, wenn wir in der geistigen Welt sind, als hier in der physischen …. hängen so zusammen, daß wir ganz umgestülpt sind. Wenn wir hier den Menschen so umstülpen könnten, daß wir sein Inneres nach außen wenden würden, daß also zum Beispiel das Innere, das Herz dann die Oberfläche des Menschen wäre – er würde dabei nicht leben bleiben als physischer Mensch … –, aber wenn man ihn umstülpen könnte, im Herzen innerlich anfassen und ihn so wie einen Handschuh umstülpen, dann bliebe er nicht ein solcher Mensch, wie er hier ist, dann vergrößerte er sich zu einem Universum. Denn wenn man sich in einem Punkt ins Herz hinein konzentriert und dann die Fähigkeit hat, im Geiste sich selber umzustülpen, dann wird man diese Welt, die man sonst erlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das ist das Geheimnis des menschlichen Inneren, welches nur in der physischen Welt nicht nach außen gestülpt werden kann. Aber das menschliche Herz ist eine umgestülpte Welt auch, und so hängt wiederum zusammen die physische Erdenwelt mit der geistigen Welt. Wir müssen uns gewöhnen an dieses Umstülpen. Wenn wir uns nicht daran gewöhnen, so bekommen wir nie eine richtige Vorstellung von dem, wie sich eigentlich die hiesige physische Welt zu der geistigen Welt verhält.“
Dieser Ausspruch macht nicht nur deutlich, daß Umstülpung das Prinzip der Schöpfung ist, sondern auch das Prinzip des menschlichen Ich-Bewußtseins, welches den Sinn und die Aufgabe des Menschen beschreibt. Der geistige Weltenplan stülpt sich um in physische Geschöpfe. Die menschliche Erkenntnis stülpt das physisch Erfahrbare wieder zurück in geistige Erkenntnis bzw. „Ich-Substanz“. Steiners Ausspruch macht außerdem deutlich, daß die höhere Wahrnehmung des gesteigerten Bewußtseins den Umstülpungsvorgang der Schöpfung rückwärts gerichtet nachvollzieht, um aus der physischen in die geistige Welt hineinzugelangen.
Diese Prozesse des Herausstülpens aus der physischen Welt hinein in die geistige Welt und zurück sind gleichartig sowohl mit Einschlafen und Aufwachen als auch mit Tod und Geburt, die ebenfalls Umstülpungen darstellen. So sind in diesem kurzen Zitat schon die meisten in diesem Buch behandelten Themen angesprochen. Außerdem weist der Satz „Wir müssen uns gewöhnen an dieses Umstülpen.“ auf die Notwendigkeit der Beschäftigung mit diesem Thema hin, was sich mir innerlich sofort bestätigte, als ich begann, mich in die Materie einzuarbeiten.
Die Umstülpung hat mehr mit uns zu tun, als wir zunächst verstandesmäßig erfassen können. Sie wirkt in den tieferen Schichten der Seele. Sie ist ein Grundprinzip des Seins.
Kaum waren diese Gedanken erfaßt, setzte ich mich mit Emma Volquardsen in Verbindung, um über die Gestaltung des Buchdeckels zu sprechen. Ihr sei herzlich gedankt, und gedankt sei auch vor allem Ulrike Nadler, die mit großer Geduld und tiefer Einfühlung den Text redigiert hat. Eine ganze Anzahl ihrer Vorschläge und Ideen wurde in die Schrift mit aufgenommen. So z. B. der nun folgende Versuch, den Begriff der Umstülpung zu beschreiben, um ihn von ähnlichen Begriffen wie etwa dem der Umkehrung oder der Metamorphose abzugrenzen.
Der Begriff der Umstülpung zeigt eine Umwandlung, die räumlich-gegenständlich angewendet die Nach-Außen-Kehrung eines Inneren und damit die gleichzeitige Nach-Innen-Kehrung eines Äußeren beschreibt. Vermutlich ist der Ausdruck an den sog nannten „Stulpen“, den langen Stiefelschäften entstanden, die man in alter Zeit dann unter dem Knie umkrempelte. Umkrempeln heißt, man klappt den Schaft so um, daß sein Inneres außen erscheint. Krempeln kommt vermutlich von der Hutkrempe her, bei der ja eine ähnliche Erscheinung wie beim Schaftstiefel zutage tritt, indem man die Hutkrempe nach außen-oben umstülpt.
In beiden Fällen würde man nicht von einer Umkehrung sprechen wollen, auch nicht von einer Metamorphose oder einer bloßen Umwandlung. Rudolf Steiner macht die Umstülpung am Beispiel eines Handschuhes deutlich, indem er beschreibt, wie man dessen Inneres nach außen kehren kann. Benutzt man den Begriff der Umstülpung im übertragenden Sinne für Nicht-Gegenständliches, wie es in dieser Schrift geschieht, so wird die Abgrenzung gegenüber anderen Begriffen schwierig. Wo endet die Umstülpung und wo beginnt die Metamorphose?
Inwiefern spielt die Umstülpung in die Metamorphose hinein? Das sind Fragen, die im Einzelfall geklärt werden müssen. Ich will jedoch nicht diese Begriffe definieren, sondern versuchen, sie zu charakterisieren, um mit ihrer Hilfe ein höheres Prinzip des Seins zu beschreiben.
Nachdem der schriftliche Teil des Buches auf dem Wege war, entstand der Wunsch, die Umstülpung anhand von Fotos am Beispiel einiger Umstülpkörper optisch nachvollziehbar zu machen. Beim Umstülpen der Kugel kann man nicht viel falsch machen, deshalb machte ich mich selbst an die Arbeit. Zum Umstülpen des Würfels aber bedurfte es eines kundigen Umstülpers, und der fand sich in Johannes Hagen. Ihm sei gedankt ebenso wie Archibald Kleinau, welcher die einzelnen Phasen des Stülpens auf die Festplatte bannte – früher sagte man: Er fotografierte sie. Archibald Kleinau erstellte außerdem den Satz für den Druck des Buches, welches von Christoph Möllmann gedruckt und vertrieben wird.
Auch ihm sei Dank für die Unterstützung meiner Projekte, welche sich ausschließlich darauf richten, verstehbar bekannt zu machen, was Rudolf Steiner der Menschheit hinterließ.
Da man als anthroposophisch orientierter Mensch ja immer nur ein Fragender und Vermutender sein kann, bitte ich die Leser wiederum, sich an der Klärung der geäußerten Vorschläge und Vermutungen zu beteiligen. Dies hat sich im Falle meiner bisherigen Veröffentlichungen sehr bewährt. Sollten Sie also in den folgenden Ausführungen Irrtümer feststellen, oder sollten Sie weitere Formen der Umstülpung in Rudolf Steiners Werk oder auch außerhalb dessen entdeckt haben, oder sollten Sie sonstige Entdeckungen, Anmerkungen oder Fragen mitteilen wollen, so wenden Sie sich bitte über eine der Kontaktadressen im Anhang an mich.
Hamburg, im März 2004
Hans Bonneval
Inhaltsverzeichnis | |
Zur Begründung | Seite 7 |
Grundsätzliches | Seite 12 |
Die Schöpfung | Seite 13 |
Punkt und Umkreis – der kosmische Prozeß | Seite 33 |
Karma der Schöpfung | Seite 43 |
Reinkarnation und die Wiedergeburt des Kosmos | Seite 64 |
Bewußtsein als Spiegel der Schöpfung – Erkenntnis als deren Nachvollzug | Seite 68 |
Die Mensch-Welt-Beziehung und der Sinn des Lebens | Seite 83 |
Bewußtsein als Schöpfer neuer Welten | Seite 95 |
Höhere Welten | Seite 104 |
Leben, Tod und Medizin – Auferstehung durch schöpferisches Denken | Seite 122 |
Anhang | Seite 167 |
Nachwort | Seite 168 |
Bildteil | Seite 169 |
Grundsätzliches – Einführung in die Anthropsophie | Seite 184 |
Literaturverzeichnis | Seite 197 |
Buchhinweise | Seite 200 |
Biographisches | Seite 202 |
Kontaktadressen | Seite 202 |